Eine Kurzgeschichte von KW Thörmer
Das letzte Mal hat er die Sirenen der Krankenwagen so vor drei Wochen gehört. Ungefähr. Die Zeit verschwimmt, ein Tag ist wie der andere. Die aufregende Anfangsphase ist scheinbar vorbei und das Fernsehen hat er seit zwei Monaten nicht mehr angestellt. Ungefähr. Er hält sich fast nur im 1. Stock des Einfamilienhauses auf. Unten sind alle Rollläden zu. Nur durch das vergitterte Fenster des kleinen Badezimmers lässt er ab und zu Luft. Als aus Korea bekannt wurde, dass Wasserwerke schließen mussten und die Atomkraftwerke herunter gefahren wurden – aus Mangel an Mitarbeitern, hat er angefangen zu hamstern. Eigentlich schon früher, denn der Zivilschutz hat überall Broschüren verteilt, was man so im Hause haben sollte. Zwei Wochen sollte man überstehen können ohne das Haus zu verlassen. Essen natürlich, Wasser jede Menge, Medikamente.
Er war nicht wirklich ein Prepper in seinem Leben. Lebte
meist so vor sich hin, nicht selten lief der Kühlschrank leer – meist an einem
Sonntag und dann blieb nur der Gang ins Restaurant oder in zur Imbissbude. Die
kleine Broschüre – zusammen mit widersprüchlichen Nachrichten aus Zentralasien
hatten bei ihm etwas in Gang gesetzt. Er begann einzukaufen. Nicht in großen
Mengen, aber fast jeden Tag einen Wocheneinkauf in verschiedenen Supermärkten.
Immer das Verfallsdatum im Blick. Er ließ sich einen zweiten Gefrierschrank
liefern und füllte ihn nach und nach – bis eben die Nachrichten Korea im
Energie-Lockdown zeigten – Strom nur noch für 2-3 Stunden am Tag. In
Deutschland war nach der Energiewende kein Atomkraftwerk übrig geblieben. Noch
zwei oder drei Kohlekraftwerke, glaubte er. Genau wusste er es nicht. Der Strom
kann von Solaranlagen, Windenergie und ein wenig von Wasserkraftwerken. Die
Sonne würde weiter scheinen, der Wind blasen und das Wasser fließen. Aber ohne
die nötigen Mitarbeiter in Umspannwerken, Wartung und andere in diesem
Industriezweig, würde der generierte Strom es nicht bis zum Endverbraucher
schaffen. Er hatte sein Konto arg strapaziert und eine kleine Solaranlage gekauft,
sie mit Hilfe eines Elektrikers im Garten installiert. Auf dem Dach wäre es zu
aufwendig gewesen und auch zu teuer. Das Solarpanel lieferte Strom und lud vier
große Batterien im Keller. Trotzdem würden die Batterien nicht die erforderlich
220 Volt bringen, um den Gefrierschrank am Laufen zu halten.
Wasser war schlimmer. Er hatte immer schon drei Regentonnen im Garten, zusammen
so 1200 Liter Volumen. Eine große und zwei kleinere. Das Wasser war meist etwas
schlammig durch Blätter und Blüten und Blütenstaub, der mit dem Regen in die
Fässer gespült wurde. Also kaufte er einen Mikrofilter und Tabletten zum
entkeimen. In der Nähe verlief ein Bach und er fragte sich in manchen
schlaflosen Nächten, ob das Wasser zur Not trinkbar wäre. Der Gasgrill fiel ihm
ein. Ein kleine Gasflasche – waren es fünf Kilogramm? Er fuhr zum Baumarkt und
holte zwei große Gasflaschen 11 Kilogramm. Und als er dort durch die Gänge
fuhr, kaufte er noch Holzplatten – aus dem vagen Grund Fenster oder Grundstück
zu schließen, wie man es in den von Hurrikans gebeutelten US-Staaten gesehen
hatte.
Die Nachbarn zur linken hatten sich irgendwann in ihr Ferienhaus in der Eifel
abgesetzt. Ihr Haus verrammelt und verschlossen, beide Autos bis oben hin
beladen waren sie los gefahren. Nicht ohne sich verabschiedet zu haben – mit
dem üblichen Talk auf der Straße vor den Häusern. Das war noch vor der
allgemeinen Ausgangssperre, kurz nach der Schließung aller öffentlichen Plätze.
Der Nachbar zur rechten war ein altes Ehepaar, dass sich sowieso kaum aus ihren
Haus heraus bewegte. Bis vor einigen Wochen war noch die Tochter regelmäßig
gekommen. Er hatte ihr Auto mit Hamburger Kennzeichen immer wieder vor deren
Tür gesehen. Eines Morgens war auch deren Haus zu und verrammelt und nachts
schien kein Licht. Vielleicht hat die Tochter sie mitgenommen nach Hamburg.
Ein Sirenenalarm ertönte. War es Samstagmittag? Er hatte
seine Smartwatch und sein Handy nicht
mehr geladen, zu viele Nachrichten. Kurznachrichten: blink : Kanzler spricht
von großen Opfern, blink: neue Rekord zahlen von Erkrankten in Frankreich.
Blink dies und blink das. Er konnte es nicht mehr hören. Versenkte Handy und
Ladegerät und Smartwatch in die Nachttisch-Schublade. Gestern war ein
Polizeiwagen mit Lautsprecheransagen durch die Straßen gefahren. Er hatte die
Musik aufgedreht, bis er sie nicht mehr hörte. Von der Hauptstraße her waren
schwere LKW zu hören – ungewöhnlich für die kleine Stadt. Sie fuhren und
fuhren. Wieder Lautsprecher Durchsagen. Eine Sirene heulte ungewöhnlich – doch
kein Samstag-Mittag. Seine Kopfhörer waren teuer und gut. Neil Young blendete
alles aus. Er wusste, dass sein Haus so wie die der Nachbarn unbewohnt aussah.
Die Treppe zum Haus voller Blütenstaub und unbegangen. Alle Rollläden zu.
Nachts kein Licht außer den Solarlampen im Vorgarten.
Es wurde still. Die LKWs waren weg. Einmal sah er ein Polizeiauto langsam durch
die Straße fahren und er verzog sich rasch hinter die Vorhänge. Sie hatten ihn
nicht gesehen. Die Nächte waren eigentlich schön. Der Himmel klar und kein
Flugzeuglärm störte. Das unentwegte Rauschen der Autobahn – weg.
Jeden Morgen pflegte er seinen Salatgarten – unter dem Dach. Und nachts den Garten
draußen. Er überlegte, ob er den Garten der Nachbarn einfach mit bepflanzen
sollte. Genug Saatgut hatte er. Möhren, Radischen, Kartoffeln, Gurken. Sein
Garten würde ihn auf die Dauer nicht ernähren. Irgendwann hatte er eine
Rechnung gesehen- wie viel Quadratmeter man brauchte, um einen Menschen zu
ernähren. Wenn es gut lief. Wenn es genug Regen gab und nicht zu viel davon.
Genug Sonne, Dünger. Sein Garten war bei weitem nicht groß genug. Selbst wenn
man die Gärten der Nachbarn dazu nahm würde es kaum langen. Der Boden hier war
lehmig und ließ das Regenwasser gerne schnell abfließen. Die Humusschicht der
ganzen Rasenflächen war dünn und nicht wirklich ergiebige Ackerkrume.
Tagsüber las er viel. Saß in seinem verstellbaren Ohrensessel und las wahllos
in einem Buch, bis die Augen brannten. Mittags kochte er etwas – sparsam. Nahm
eine Vitamintablette aus seinem Vorrat. Als Nachtisch sozusagen. Noch gab es
Strom. Er nutzte erst das Tiefkühlessen. Wer weiß, wie lange es noch Strom gab.
Morgens – nach der Gartenpflege – ging er auf das Fitnessrad und machte
Hantel-Training. Jeden Tag, obwohl es ihn jeden Tag mehr anstrengte.
Nachmittags – nach dem Essen fielen ihm meistens die Augen zu und ein unruhiger
Schlaf überkam ihn. Bald schreckte er wieder auf. Ging ruhelos im Haus auf und
ab. Treppe rauf und Treppe runter. Einmal hatte er gedacht, dass dies ein gutes
Training wäre, irgendwann wurde es zur Gewohnheit. Alle paar Tage überraschte
er sich selbst, indem er von früh bis spät das Haus reinigte. Noch gab es
Leitungswasser. Das Bodenputzmittel war ihm ausgegangen und er versuchte es
erst mit Shampoo, dann mit Geschirrspüler. Beides brauchte eine ungeheure Masse
an Wasser, um den glitschigen Film wieder abzubekommen. Essig stattdessen
verbreitete einen schlimmen Geruch. Schließlich putzte er nur mit Wasser.
Staubsaugen, die Toiletten reinigen mit ein wenig Desinfektionsmittel, die
herunter gefallene Erde am Dachgarten. Nur die Fenster putzte er nie. Sie waren
mit dicken Schlieren der Blütenpollen bedeckt. Nur ein Regenguss wusch sie
manchmal ab. Kein Mensch war zu sehen, kein Fahrzeug zu hören. Ein Rudel Hunde
lief durch die Straße. Ohne zu bellen. Wie auf einer Jagd, die nur sie
anführten und ihr Hunger. Bei einem heftigen Wind brach auf der anderen Seite
der Straße der dicke Ast einer Buche ab. Lag halb auf der Straße. Niemand
räumte ihn weg. Niemand störte sich daran. Auch ihn störte es nicht. Im
Gegenteil. Es wirkte beruhigend, dass die Straße halbwegs blockiert war. Dann
würde auch niemand hier entlang kommen wollen. Eines Nachts sah er einen Marder
über die Straße laufen und in dem Zweig verschwinden. Er maß die Zeit, die
verging, an seinen Vorräten. Längst hatte er sich auf Diät gesetzt. Die zweite
Tiefkühltruhe hatte sich bedenklich geleert und von den Dosen waren die
leckeren Sachen auch schon weg. Die Schokolade war alle. Das Toilettenpapier
war alle und durch Zeitungspapier ersetzt worden. Die H-Milch war alle und er
musste das Müsli mit Wasser anrühren. Eklig. Immer noch gab es Strom und
Wasser. Ob das in anderen Ländern auch so war. Frankreich hatte viel Atomstrom.
Wie hielten die das? Haben sie die Kraftwerke kontrolliert herunter gefahren
oder waren welche in die Luft geflogen wie Tschernobyl? Vielleicht war schon
mehr Radioaktivität in der Luft als man überleben konnte. Er hatte keinen
Geigerzähler um das festzustellen. Radischen Ernte ! Ein Glückstag. Sie waren nicht
so groß wie im Supermarkt, aber rund und rot und knackig. Schmeckten etwas
erdig aber nach Bio und Natur. 10 erlaubte er sich zu ernten und aß sie mit
etwas Salz hintereinander weg. Es krachte im Mund und schmeckte gut.
In der darauf folgenden Nacht blieb der Strom aus. Erst merkte er es gar nicht,
denn nachts machte er kein Licht an. Aber er spürte, dass etwas anders war. Er
sah sich um. Das Kontrolllämpchen am Ladegerät der Taschenlampe war aus. Eilig
lief er in den Keller. Das leise Summen der Kühltruhen war aus. Würde der Strom
nochmal wieder kommen ? Wie in Korea – stundenweise ? Oder aus und bleibt aus.
Ihm fiel auf, dass er kaum Beleuchtung im Hause hatte – ein paar Kerzen – die
aufladbaren Taschenlampen. Das war alles. Die eine Kühltruhe war leer, die
andere zu zwei Drittel leer. Er schaute nach, was übrig geblieben war:
gefrorener Blumenkohl, ein angefangener Beutel Pommes (wie sollte man die jetzt
zubereiten, auf dem Grill? Ging das?) , gefrorener Fisch, ein Beutel mit 10
selbst eingefrorenen Nackensteaks. Ein Beutel mit trockenem Kuchen.
Der Fisch und die Nackensteak waren das größte Problem. Die würden nicht lange
halten. Er beschloss zu warten, ob der Strom vielleicht zurück käme. Ein oder
zwei Tage würde es schon kühl genug bleiben.
Später ging noch einmal in den Keller und holte zwei der Nackensteaks und legte
sie auf den Grill. Er aß sie beide auf, nur Tomatenextrakt als Würze, nichts
dazu. Wie lange hielten die zwei großen und die kleine Gasflasche? Er wusste,
dass die kleine Gasflasche im Großen und Ganzen die ganze Sommer-Grillsaison
hielt. Aber wie oft hatte er tatsächlich gegrillt? So alle 1-2 Wochen einmal ?
Er wusste, dass der Nachbar zur linken einen großen Gasgrill hatte und einen
Kugelgrill. Der Nachbar grillte mehr. In den lauen und warmen Sommerabenden
fast jeden Abend. Er musste Vorräte an Gas und Grillkohle haben. Die alten
Leute vom Haus am Anfang der Straße hatten einen Kamin, der im Herbst und
Frühjahr die Nachbarschaft verpestete. Die mussten Holz gelagert haben. Eine Straße
weiter wohnten Freunde, bekannt für ihren erlesenen Weinkeller.
Aber noch war es nicht soweit. Er drehte den Wasserhahn auf. Das Wasser lief
normal. Er hatte irgendwo gelesen, dass ohne Strom auch das Wassernetz
zusammenbrechen würde. Aber noch lief es. Seine Gedanken drehten sich im
Kreise. Lange stand er am Fenster des Wohnzimmers im 1. Stock und schaute in
die Grünanlage vor dem Haus. Vögel sausten umher. Er sah einen Schwarm Tauben
nach Futter picken. Weiter hinten hatte die Stadt eine Reihe Obstbäume
gepflanzt, deren unreifen Früchte regelmäßig von Jugendlichen im Sommer mit
Stöcken herunter geschlagen wurde, immer den Wunsch in ihm erweckend, sie
ordentlich auszuschimpfen. Um es dann doch nicht zu tun, an seine eigene Jugend
denkend. Diesmal würde sie wohl nicht hier sein um die Obsternte im Spätsommer
zu zerstören. Er musste an all das
denken, was ihn in den Parkanlagen geärgert hatte – die nächtlichen Saufgelage
mit lauter Musik, die Hundebesitzer, die den Kot ihrer lieben kleinen einfach
liegen ließen. Das Gewummer der Musikanlage vom Auto eines jüngeren Nachbarn
auf der Straße, wenn er morgens zur Arbeit fuhr.
Es fehlte ihm. Die Grünanlagen lagen einfach still da. Nur er und die Vögel.
Die Bänke unbenutzt. Von Vogelkot dreckig und staubig. In den Ritzen der
Bürgersteigsteine hatte sich Moos und kleine, freche Pflanzen gebildet, nicht
mehr platt gelaufen von den Schulkindern, die jeden Morgen hier durch zogen.
Die Pausenglocke der Schule – immerhin 2-300 Meter entfernt störte nun nicht
mehr. Sie hatte noch Wochen nach der Schließung weiter gebimmelt, immer um
10.00 Uhr. Jetzt war sie verstummt, so wie die Autobahn, so wie die Sirenen der
Einsatzfahrzeuge.
Seit Tagen hatte er nichts mehr gehört außer den Naturgeräuschen.
Am nächsten Morgen, den zweiten ohne Strom, entschloss er sich, die restlichen
Lebensmittel der Tiefkühltruhe zu essen, oder haltbar zu machen. Bohnen konnte
man einkochen und haltbar machen, warum nicht auch den Blumenkohl? Ein Versuch
war es wert. Er grillte den Fisch und einen Teil des Fleisches – und es
brauchte elend lange auf dem Grill und verbrauchte wohl viel von dem Gas. Der
Rest des Fleisches würde ohne Kühlung rasch verderben und so warf er es auf den
Müllhaufen, der sich – schon von der Nachbarschaft am Anfang der Straße
gebildet hatte, als die Müllabfuhr nicht mehr kam. Sorgsam achtete er darauf,
die Treppe zum Haus nicht zu begehen, sie sollte unberührt aussehen, das Haus
unbewohnt – zumindest auf den ersten Blick.
Es juckte ihn, das Handy anzustellen, wieder einmal. Hatten Leute überlebt? Wie
sah die Welt jetzt aus? Er widerstand der Versuchung, stand weiter stundenlang
am Fenster. Abends hing er die Taschenlampe zum aufladen an die
Solar-Batterie-Anlage im Keller, pflückte sorgsam ein paar Salatblätter eigener
Ernte und aß im Dämmerlicht den restlichen Fisch vom Mittag.
Die Nacht war dunkler als die vorherigen. Keine Straßenbeleuchtung brannte. Die
Häuser lagen sowieso im Dunkeln. Hier und dort blinkten schwach Solarlampen in
Gärten.
Er schaute aus dem Dachfenster und glaubte am Horizont Richtung Rhein einen
Lichtschimmer zu sehen, vielleicht war dort noch Strom.
Am nächsten Tag stellte er einen Plan seiner Vorräte auf und erlaubte sich nur
noch eine Mahlzeit am Tag. Mehr als einmal dachte er daran, die Nachbarhäuser
nach essbarem zu durchsuchen, doch was wäre, wenn sie gerade dann zurück kämen
und ihn beim Einbruch fanden. Die Nachbarschaftliche Freundschaft wäre ein und
für alle Mal verloren. Keiner würde ihm mehr vertrauen und er würde AKTENKUNDIG
werden.
Die Tage und Wochen vergingen, die Mahlzeiten wurden
eintöniger und kleiner. Den Snack, den er sich ab und zu erlaubte, wenn er
glaubte, es wäre Sonntag, war weg gefallen.
An einem Tag stand er im Garten und jätete wieder einmal das Unkraut, als die
Erde erbebte. Ein gewaltiger Knall erfüllte die Luft und brachte die Vögel zum
Schweigen.
Erschrocken lief er rund um das Haus, aber er konnte die Herkunft nicht
ergründen. Der gewaltige Knall war weiter weg gewesen, vielleicht in der Stadt.
Erst Stunden später sah er am Horizont eine schwarze Rauchwolke stehen. Die
Wolke hielt sich tagelang, bis sie mehr und mehr ausdünnte und schließlich kaum
noch zu erahnen war. Trotzdem hielt er weiterhin aus dem Dachfenster Ausschau
in diese Richtung. Er malte sich aus, dass ein Kraftwerk explodiert, im
günstigen Fall ein Kohlekraftverkehr, im schlechtesten Fall ein Atomkraftwerk.
Er war sich ziemlich sicher, dass nur in Belgien welche in Betrieb waren, nicht
jedoch in seiner Gegend am Rhein. Eine Fabrik? Vielleicht eine Chemiefabrik?
An einem dieser Abende aß er zum ersten Mal von dem absoluten Notfall Vorrat.
Der Sommer hatte wohl begonnen. Er hatte begonnen
Selbstgespräche zu führen, manchmal laut
zu schimpfen. Immer weniger schenkte er seinem Äußeren Aufmerksamkeit. Manchmal
– wenn die Sonne heiß brannte, lief er nackt im Garten umher, jätete Unkraut
oder streifte im Park umher. Seit ihn einmal ein verwilderter Hund angeknurrt
hatte, trug er immer seinen alten, knorrigen Wanderstock mit der Metallspitze
mit sich. Er hatte einen großen Teil des Gartens umgepflügt und Kartoffeln
gepflanzt. Grasbüschel setzten sich immer wieder zwischen den windschiefen und
krummen Reihen durch.
Jeder Tag wurde langsamer und das Aufstehen schwieriger. Sein Fernsehsessel
wurde sein bevorzugter Platz, das Sitzen auf den harten Küchenstühlen war an
manchen Tagen einfach zu schmerzhaft. Stundenlang saß er vorgebeugt auf dem
Klo, zum einen weil er auf einen normalen Stuhlgang hoffte, zum anderen tat ihm
dort der frei hängende Hintern nicht weh.
Die Sonne schien nun hoch am Himmel und es wurde sehr warm. Trotzdem ging er
kaum hinaus, ohne in eine Decke eingewickelt zu sein. Aus dem Spiegel schaute
ihn ein Fremder an, mit tief sitzenden Augenringen, schmalem Gesicht und
struppigen Bart und Haaren.
Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal geduscht oder sich zum
Mindestens ordentlich gewaschen hatte, aber es gelang ihm nicht. Ein Tag war
wie der andere, aber jeder Tag ein wenig komplizierter. Das Gas des Grills war längst aufgebraucht
und er versuchte die Nudeln mit kaltem Wasser einzuweichen, denn sein
Zahnfleisch tat ihm weh. Seine Gedanken begannen ununterbrochen um Essen zu
kreisen. Im Garten kroch er herum und versuchte die Kartoffelpflänzchen aus dem
Boden zu sprechen. Als Schnecken den gerade keimenden Salat vernichteten,
weinte er bittere Tränen. Der kleine Apfelbaum im Garten war ein später Apfel.
Jetzt im Sommer waren die Früchte nur kleine, grüne Knubbel. Die schmeckten
nicht und brachten auch keine Erleichterung. Im Gegenteil. Magenkrämpfe wurden
seine ständigen Begleiter.
An einem Regentag blickte er stundenlang auf das Dach des Nachbarhauses. Dann
hatte er das Nachbarhaus wieder vergessen.
Kein Gedanken brannte mehr in ihm. Tiefe Traurigkeit hielt ihn gefangen. Das
Licht schien nicht mehr hell, vielleicht lag es einfach nur daran, dass er die
Vorhänge 1.Stock nicht mehr aufzog, alles im Halbdunkel liegen ließ, wie sein
eigener Geist durch die Zimmer ging. Waren nicht noch Ticktacks im Nachttisch?
Kann man Zahnpasta essen? Hatte er erst neulich noch eine Dose Pfirsiche im
Keller gesehen?
Er ging nachsehen. Tränen rannen aus ihm heraus, als er erst das Vorratsregal
und danach den ganzen Keller durchwühlte. Bis er sich irgendwann in der Mitte
des Heizungskellers auf dem Boden wiederfand. Mühsam stand er auf. Schwankte
die wenigen Schritte zur Kellertreppe, die ihm nun endlos lang erschien. Er
musste etwas essen. Noch gab es Nudeln und Reis. Er schleppte sich die Treppe
hinauf ohne hinzufallen. Ging in die Küche und legte einen ganzen Kochbeutel
Reis in kaltes Wasser. Trübselig schaute er dem Reis zu. Bewegte den Beutel ab
und zu, damit er schneller das Wasser aufsog. Er erwog, den Reis klein zu
stampfen. Aber ließ es dann doch. Ein paar Mal vergaß er, warum er am Herd
stand und starrte fassungslos auf den Beutel Reis in seiner Hand.
Er riss den Beutel auf und aß den harten Reis mit den
Fingern, versuchte gut zu kauen, aber seine Zähne taten ihm weh. Vor zwei Tagen
– oder Wochen, waren ihm Zähne ausgefallen. Zwei oder drei.
Er trank Wasser. Und noch mehr Wasser, bis seine Magenkrämpfe wieder begannen.
Dann wachte er auf.